„Sie müssen Ihre Risiken minimieren.“ Die Empfehlung meines Versicherungsberaters hat mich daran erinnert, dass wir in einer Gesellschaft mit Vollkasko-Mentalität leben. Natürlich: Grundsätzlich ist es sinnvoll, Risiken zu minimieren und das Sicherstmögliche anzustreben, sei es gesundheitlich, finanziell, beruflich. Das hat mit Vernunft zu tun. Und wir wollen ja – meistens wenigstens – vernünftig sein. Politisch ist es mit dem Risiko jedoch so eine Sache: Einerseits wollen wir keine Angsthasen-Politik betreiben, andererseits wollen wir den angepeilten Erfolg auch nicht mit Tollkühnheit gefährden. Auf gut neudeutsch ist also Riskmanagement gefragt.

Diese Risikoabwägung nehmen in meiner Beobachtung immer mehr auch die Stimmenden und Wählenden vor. So habe ich in letzter Zeit verschiedentlich von politisch interessierten Mitmenschen gehört: „Ihr (gemeint sind wir Linken) habt ja eigentlich schon Recht. Ein Mindestlohn von monatlich 4000 Franken wäre gerecht. Aber das bringt das Risiko mit sich, dass Arbeitsplätze und Wohlstand verloren gehen könnten. Und dieses Risiko können wir doch nicht eingehen.“ Aber auch wir selber sind vor solchen Risikoüberlegungen allen Grundsätzen und Bekenntnissen zum Trotz nicht gefeit: Sollen wir für die Öffnung nach Europa einstehen, auch wenn die öffentliche Diskussion zurzeit in eine andere Richtung geht? Sollen wir uns Integrationsfragen annehmen, auch wenn dies Kontroversen mit sich bringt?

Frei nach der Theorie der politischen Ökonomie verhalten sich alle so, wie es im Lehrbuch steht: nutzenmaximierend und risikominimierend. Das ist menschlich. Und doch auch bedenklich. Wo sind die „Überzeugungstäterinnen und -täter“ geblieben? Wo diejenigen, die nicht nur an sich, sondern auch ans Ganze denken? Offensichtlich ist auch in der Politik Vollkasko gefragt. Das führt dazu, dass Menschen politisch nicht so handeln, wie sie es gemäss ihrer Überzeugung eigentlich für richtig halten, sondern so, wie es für sie vorteilhaft ist. Darüber jammern müssen wir nicht. Aber daraus die richtigen Schlüsse ziehen.

Wenn wir die Menschen ermutigen, sich politisch so zu verhalten, wie es ihrer tatsächlichen (Wert)Haltung entspricht, dann haben wir viel gewonnen: Klarheit, Profil, Gradlinigkeit. Das Gleiche gilt auch für uns selber. Dieses Risiko können wir eingehen. Wetten, dass dann der eine und andere politische Entscheid anders ausfallen wird?

Kolumne im P.S., April 2014


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