„Ist das Glas nun halb voll oder halb leer?“ Diese Frage hat mir ein Bekannter nach dem letzten Wahlsonntag gestellt. Für mich ist das Glas ganz klar halb voll: Jacqueline Fehr wurde solide als Neukandidierende in den Regierungsrat gewählt, Mario Fehr als Bisheriger mit einem Glanzresultat bestätigt und im Kantonsrat hat die SP zum ersten Mal seit 12 Jahren wieder zugelegt. Die SP hat damit bewiesen, dass es wieder eine Entwicklung „obsi“ gibt. Das ist Grund zur Freude und in einem unverändert konservativ-liberal geprägten Kanton (um das diffuse Wort „bürgerlich“ nicht zu verwenden) keine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil: Dahinter steckt engagierte Teamarbeit in der ganzen Partei, waren doch die vergangenen Jahre für die Linke kein Zuckerschlecken.
„Eigentlich habe ich mir vorgenommen, in meinem Alter nicht mehr wählen zu gehen. Vom meisten bin ich ja nicht mehr wirklich betroffen und auf eine Stimme mehr oder weniger kommt es sowieso nicht an.“ Dies sagte mir vor einigen Tagen eine 72-jährige Nachbarin im Treppenhaus. Ich habe mit ihr dann diskutiert und sie gefragt, ob es für sie denn nicht wichtig sei, dass ihr Enkel in eine gute Volksschule gehen könne, ihre berufstätige Tochter familienergänzende Kinderbetreuungsangebote nutzen könne und sie selber im Unispital eine hochstehende Behandlung erhalte. Daraufhin meinte sie, sie müsse wohl doch weiterhin wählen gehen, sie sei sich nicht bewusst gewesen, dass kantonale Wahlen auf diese Themen einen Einfluss hätten.
Kürzlich an einem Samstagmorgen im Zug von Visp nach Martigny: Ich suche mir zwischen Touristen und Ausflüglern einen Platz. Plötzlich stelle ich fest, dass im Abteil nebenan Simonetta Sommaruga, unsere Bundespräsidentin, mit zwei Mitarbeitern sitzt. Sie ist ebenfalls unterwegs an den Parteitag und fährt wie alle anderen im Zug. Einige Schweizer erkennen sie und grüssen diskret – die britische Reisegruppe hingegen kann kaum glauben, dass es sich bei ihr um ein Regierungsmitglied handelt und meint, bei ihnen wäre sowas undenkbar.
Die Welt steht vor grossen klimapolitischen Herausforderungen. Auch die Schweiz muss in Zukunft verstärkte Anstrengungen unternehmen, um den CO2-Ausstoss zu reduzieren und erneuerbare Energien stärker zu fördern. Was bei der Initiative "Energie- statt Mehrwertsteuer" auf den ersten Blick aussieht wie eine zukunftsweisende Strategie, ist finanzpolitisch jedoch ein gefährliches Experiment: Heute ist die Mehrwertsteuer mit über 22 Milliarden pro Jahr die mit Abstand wichtigste Einnahmequelle des Bundes. Insbesondere für die Finanzierung unserer Sozialwerke AHV und IV, die Aufrechterhaltung der Bahninfrastruktur sowie die Förderung des Bildungs- und Forschungssystems ist die Mehrwertsteuer von zentraler Bedeutung. Die Einnahmen fallen verlässlich an und sind gut planbar. Ersetzen wir die Mehrwertsteuer mit einer Energiesteuer, gehen wir ein unkalkulierbares Risiko mit ungewissem Ausgang ein. Wenn die Initiative ihr Ziel erreicht und der Energieverbrauch sinkt, fehlt dem Staat automatisch Geld. Abbauprogramme im öffentlichen Bereich oder aber generelle Steuererhöhungen wären die Folge. Beides macht keinen Sinn. Fazit: Die Initiative «Energie- statt Mehrwertsteuer» hat einen gravierenden Konstruktionsfehler. Sie verfolgt ein richtiges Ziel – der Weg aber ist der falsche. Deshalb muss sie abgelehnt werden.
„It’s the economy, stupid!“ Mit diesem Slogan zog Bill Clinton 1992 in den US-Präsidentschaftswahlkampf – und gewann bekanntermassen. Kürzlich habe ich in Anlehnung daran gelesen: „It’s the middle class, stupid!“. Entscheidend ist also der Mittelstand, sowohl für das Funktionieren eines Staates und einer Wirtschaft, als auch für das Gewinnen (oder Verlieren) von Wahlen. Das stimmt nicht nur für die USA, sondern auch für die Schweiz: Der Mittelstand ist das gesellschaftliche und wirtschaftliche Rückgrat. Als Mittelstand werden meist die Personen mit mittlerem Einkommen verstanden. Berechnungen zufolge sind dies rund 60 Prozent der Bevölkerung.
„Unglaublich, wie so etwas geschehen kann.“ Diese Aussage hören wir in diesen Tagen wohl alle häufig, wenn von der Mutter aus Flaach die Rede ist, die ihre zwei Kinder umgebracht hat. Die Tat und die Umstände wühlen auf und sorgen für Diskussionen – für hilfreiche und verständliche, aber auch für unverantwortliche und unfaire. Betroffen davon sind auch die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB), die von einigen Politikern, einigen Gemeinden und einigen Medien teilweise heftig angegriffen werden – nicht erst seit der Tragödie von Flaach, sondern auch schon vorher. Für mich ist klar: Jede Tragödie ist eine zuviel und in jedem Fall muss untersucht werden, welche Lehren daraus gezogen werden müssen. Klar ist für mich aber auch: Rundumschläge nützen nichts und sind reine Polemik. Notwendig sind eine faire Betrachtungsweise und die Prüfung von Fakten und Verbesserungsmöglichkeiten. Dieser Anspruch muss auch für die KESB gelten.
„Wahlen sind in der Schweiz nicht so wichtig. Das politische System ist stabil und die Verwaltung stark, da ändern ein paar Prozente mehr oder weniger bei den Parteien so gut wie nichts.“ Diese Aussage habe ich vor einigen Tagen in einem Pressekommentar gelesen. Bei allem Respekt: Sie ist Unsinn. Wenn ich mir die aktuellen Diskussionen anschaue, dann habe ich sogar den Eindruck, dass Wahlen in der Schweiz und im Kanton Zürich immer wichtiger werden, weil die Konsensfindung je länger je schwieriger wird.
„Politik der ruhigen Hand“ nannte Gerhard Schröder seinen Regierungsstil und meinte damit die Grundhaltung, auf überstürzte Ereignisse nicht auch überstürzt zu handeln, sondern überlegt und gezielt vorzugehen. Natürlich bin ich mir bewusst, dass einerseits das Handeln von Schröder nicht unumstritten ist und andererseits die Politik häufig aus Aktion und Reaktion besteht. Wie auch immer: Anlässlich der laufenden Debatte zur Sozialpolitik sind mir die Worte Schröders eingefallen – und ganz falsch scheinen sie mir nicht zu sein.
„Okay, so schlimm wie in den Medien dargestellt ist es wohl nicht, aber dass man mal etwas genauer hinschaut, ist ja schon nicht falsch.“ Solche Äusserungen höre ich zurzeit häufig, wenn über das Sozialwesen gesprochen wird. Selbstverständlich: Aktuelle Fragen zu diskutieren und bestehende Systeme zu hinterfragen, ist wichtig. Und auch Kostenbewusstsein zu propagieren, finde ich richtig. Die Schwierigkeit an der laufenden Debatte über das Sozialwesen besteht für mich aber darin, dass vieles miteinander vermischt und in einen Topf geworfen wird: Von den Kleinkinderbetreuungsbeiträgen, den Zusatzleistungen zur AHV und IV, der Sozialhilfe, der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) bis hin zu den neuen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) wird von den Kritikern pauschal alles als „Sozialindustrie“ und „Sozialkosten“ tituliert. Das ist weder sachlich noch hilfreich - und auch nicht korrekt, da es sich um ganz unterschiedliche Rechtsgrundlagen, Kostenträger und Funktionsweisen handelt. Die Realität ist komplexer als es einfache Sprüche glauben machen wollen. Verschiedene Zusammenhänge zeigen dies auf:
„Okay, so schlimm wie im Blick dargestellt und von der SVP behauptet ist es wohl nicht, aber im Sozialwesen mit diesen enormen Kosten etwas genauer hinzuschauen, ist ja schon nicht falsch.“ Solche Äusserungen wie die eines Bekannten höre ich zurzeit häufig. Selbstverständlich: Das Hinterfragen von Systemen ist legitim und Kostenbewusstsein ist wichtig. Doch darum geht es in der laufenden Debatte nicht. Die SVP und ihre Trittbrettfahrer werfen bewusst alles in einen Topf und machen Stimmung: Von den Kleinkinderbetreuungsbeiträgen, den Zusatzleistungen, der wirtschaftlichen Hilfe bis hin zur KESB wird alles pauschal als „Sozialkosten“ und „Sozialindustrie“ verunglimpft.