Liebe Niederhaslerinnen und Niederhasler, liebe Gäste
Ich freue mich, bei Ihnen zu sein und quasi ein Heimspiel bestreiten zu können.
Die Neue Zürcher Zeitung hat letzte Woche geschrieben, dass viele Schweizerinnen und Schweizer unter einer Wahrnehmungsstörung leiden würden. Viele glauben, es würde alles immer schlechter und früher sei alles besser gewesen. Genau betrachtet aber werde in der Schweiz vieles immer besser und sei früher schlechter gewesen als heute. Als Belege dafür werden die Lebenserwartung, die Verkehrsunfallstatistik und die Wasserqualität genannt.
Und tatsächlich: Die Lebenserwartung in der Schweiz hat für Männer und Frauen innert zwei Generationen um 14 Jahre zugenommen. Die Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle ist heute über 5 Mal tiefer als noch vor 40 Jahren, obwohl der Verkehr massiv zugenommen hat. Die Wasserqualität ist so gut, dass unser Leitungswasser beste Trinkwasserqualität hat und in allen Seen und Flüssen bedenkenlos gebadet werden kann.
Es würde noch unzählige weitere Beispiele wie die medizinische Versorgung, die soziale Absicherung oder die öffentliche Infrastruktur geben, die zeigen, wie gut es uns geht. Im weltweiten Vergleich leben wir fast schon im Paradies.
Dass trotzdem viele die Wahrnehmung haben, es sei früher alles besser gewesen, hat also wenig mit dem nationalen Zustand in der Schweiz zu tun, als vielmehr mit der internationalen Situation. Wenn wir schauen, was weltweit alles passiert, dann sehen wir vieles, was verunsichert.
Gemäss Angaben der UNO sind weltweit über 68 Millionen Menschen auf der Flucht, die Hälfte davon Kinder und Jugendliche. Das sind so viele wie seit dem Ende des 2. Weltkriegs nicht mehr.
Zwischen den USA, Europa und China findet plötzlich wieder ein wirtschaftlicher Handelskrieg statt. Etwas, das als eigentlich längst überwunden gegolten hat. Der Klimawandel lässt die Temperaturen steigen, die Gletscher schmelzen und in vielen Ländern Trinkwasser, wie wir es kennen, zu einer knappen und umkämpften Ressource werden. Und spätestens seit Donald Trump und seinen Twitter-Tweets wissen wir auch nicht mehr ganz genau, was echte News und was Fake News sind bzw. auf was man sich verlassen kann und auf was nicht.
Dass vor diesem Hintergrund bei vielen der Eindruck entsteht, die Welt sei aus den Angeln geraten, ist nachvollziehbar. Wir dürfen uns davon aber nicht beirren lassen: Der Schweiz geht es gut.
Dass es uns geht, ist aber keine Selbstverständlichkeit und hat auch nicht nur mit materiellen Errungenschaften zu tun. Es hat vor allem auch damit zu tun, dass wir Werte haben, die sich über Jahrhunderte entwickelt haben.
Zu diesen Werten zählen die direkte Demokratie, der Föderalismus, der Rechtsstaat, der Sozialstaat, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, ein respektvoller Umgang mit Minderheiten, eine freie und offene Gesellschaft und letztlich auch eine funktionierende Wirtschaft nach dem Grundsatz der sozialen Marktwirtschaft.
Wir haben keine natürlichen Grenzen, die die Schweiz zusammenhalten, wir haben keine gemeinsame eigene Sprache, die uns vereint, wir haben auch kein Königshaus, welches uns zusammenführt.
Was wir haben, ist der gemeinsame Wille, uns zu diesen Werten zu bekennen und gemeinsam in einem Staat zu leben. Das macht die sogenannte Willensnation Schweiz aus.
Aus dem Fussball kennen wir den Spruch: Wir alle sind das Team. In Bezug auf unseren Staat können wir sagen: Wir alle sind der Staat. Vertrauen in den Staat ist bei uns letztlich also auch Vertrauen in uns selber.
Kürzlich habe ich auf einem T-Shirt eines jungen Mannes gelesen. Mein Motto ist: Me, myself and I. Oder frei auf Deutsch übersetzt: Ich, ich und ich.
Eine solche egoistische Grundhaltung ist bezogen auf unseren Staat Gift. Die Schweiz funktioniert nur als ein Miteinander und nicht als ein Gegeneinander. Unsere Wertordnung und unsere Institutionen sind auf Zusammenarbeit und Kompromissfähigkeit ausgerichtet. Das sollten wir nie vergessen.
Wer ständig daran herumrüttelt, Stimmungen schürt, Polarisierung und Ideologisierung betreibt, hölt langfristig das Fundament der Schweiz aus und stellt damit den Wohlstand, die Stabilität und den sozialen Zusammenhalt in Frage.
Was wir hochhalten müssen, sind gutschweizerische Eigenschaften wie Sachlichkeit, Pragmatismus, Beständigkeit und Offenheit. Wir müssen auch immer wieder neu für unsere Wertordnung, die Demokratie, den Rechtsstaat und die liberale Gesellschaft einstehen. Sie sind keine Selbstläufer und kein Automatismus.
Dabei ist jede und jeder auch ganz persönlich gefordert. Diese Werte und Prinzipien funktionieren langfristig nur, wenn auch unsere Kinder sie weitertragen und wenn auch neu eingebürgerte oder neu integrierte Personen sie mittragen.
Wenn wir den Lauf der Geschichte anschauen, dann sind wir mit unserem Modell gut gefahren. Die Geschichte der Schweiz ist eine Erfolgsgeschichte. Anderen Staaten in Europa ist es nicht so gut ergangen wie uns. Wenn wir heute also vom Erfolgsmodell Schweiz sprechen, dann sollten wir nicht ausser Acht lassen, dass die Geschichte auch hätte anders kommen können und dass manchmal Glück und Unglück, Erfolg und Misserfolg nahe beieinander liegen und es wenig braucht, dass es so oder anders herauskommt.
Unsere europäischen Nachbar- und Partnerstaaten haben die beiden Weltkriege nicht gleich überstanden wie die Schweiz. Gerade auch kleinere Staaten wie Belgien, Holland, Dänemark oder auch die baltischen Staaten sind ohne direktes eigenes Verschulden mehrfach schwer in Mitleidenschaft gezogen worden.
Wenn wir heute über Europa und insbesondere die EU sprechen, dann hat das meist einen kritischen Unterton. Unser Verhältnis zu Europa ist zwiespältig. Das Verhältnis zu Europa ist bis heute eines der emotionalsten und konfliktreichsten Themen in der Schweiz. Und ja, auch ich persönlich finde nicht alle und alles aus Brüssel gut.
Eines müssen wir Schweizerinnen und Schweizer dem europäischen Einigungsprozess aber zugute halten: Er hat dafür gesorgt, dass es in Europa seit 1945 keine Kriege mehr gegeben hat und dass Europa zum sichersten und wohlhabendsten Teil der Welt geworden ist.
Man kann über die EU sagen, was man möchte: Als Friedensprojekt hat sie dem ganzen Kontinent enorm viel gebracht. Auch die Schweiz hat davon profitiert und profitiert immer noch davon. Wir haben ein grosses Interesse daran, dass es Europa wirtschaftlich, sozial und sicherheitsmässig gut geht.
Mir selber ist dies bewusst geworden, als ich während meines Studiums an einem Austauschprogramm teilgenommen habe und mir dort junge Deutsche, Franzosen, Belgier und Holländer erzählt haben, dass ihre Grosseltern noch gegeneinander gekämpft haben und sich teilweise gehasst haben, sie nun aber zwei Generationen später miteinander arbeiten, in den Ausgang gehen und sich bestens verstehen.
Von daher wünsche ich mir, dass wir ein unverkrampftes Verhältnis zu Europa pflegen und die EU und unsere Nachbarstaaten nicht als Gegner, sondern als Partner sehen.
So wie wir auf unsere eigene Geschichte stolz sind, müssen wir auch der Geschichte der anderen mit Respekt und Verständnis begegnen. Es gibt viel mehr Gemeinsames als Trennendes. Und wenn Europa international Gewicht haben will und sich für seine Interessen und seine Errungenschaften eine starke Stimme verschaffen will, dann geht dies nur gemeinsam und nicht im Alleingang.
Unsere eigene Geschichte zeigt uns: Die Geschichte passiert nicht einfach so, sie wird von Menschen gemacht und bestimmt. Und wer selber nicht mitbestimmt, über den wird bestimmt.
Willy Brandt hat einmal gesagt: „Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu gestalten.“
In diesem Sinn freue ich mich, wenn Sie alle Mitgestalterinnen und Mitgestalter sind. Da bei uns daheim, aber auch in der Welt draussen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen schönen 1. August.