Kürzlich an einem Samstagmorgen im Zug von Visp nach Martigny: Ich suche mir zwischen Touristen und Ausflüglern einen Platz. Plötzlich stelle ich fest, dass im Abteil nebenan Simonetta Sommaruga, unsere Bundespräsidentin, mit zwei Mitarbeitern sitzt. Sie ist ebenfalls unterwegs an den Parteitag und fährt wie alle anderen im Zug. Einige Schweizer erkennen sie und grüssen diskret – die britische Reisegruppe hingegen kann kaum glauben, dass es sich bei ihr um ein Regierungsmitglied handelt und meint, bei ihnen wäre sowas undenkbar.

Ein anderes Erlebnis: Vor einiger Zeit haben mir Parlamentarier aus der Ukraine von ihren Wahlkämpfen erzählt. Sie berichteten von Orten, in die sie nicht hingehen konnten, von Schlägertrupps, welche die gegnerischen Anhänger einschüchterten, von Drohungen bis hin zu Tätlichkeiten.

Warum diese zwei Anekdoten? Sie zeigen für mich, dass wir eine politische Kultur haben, die wertvoll und überhaupt nicht selbstverständlich ist. In welchem Land benützt das Staatsoberhaupt den öffentlichen Verkehr – und dies ohne umfangreiche Sicherheitsmassnahmen und ohne grossen Pomp? Bei uns kann die Bevölkerung Bundesräte auf der Strasse direkt ansprechen – das ist echte Bürgernähe. Im Kanton Zürich läuft derzeit der Wahlkampf für die Kantonsrats- und Regierungsratswahlen vom 12. April. Natürlich: Auch da finden kontroverse Diskussionen statt, in Fragen wie der Sozialhilfe, der Energiewende oder der Steuerpolitik herrschen verschiedene Auffassungen und es findet ein Wettbewerb um Stimmen und Mehrheiten statt. Klar ist aber auch: Die Kandidierenden begegnen sich (im Normalfall) mit Respekt und Fairness. Wir sind weit entfernt von ukrainischen (oder anderen) Verhältnissen. Wir bewegen uns im Rahmen einer gefestigten Demokratie und einer funktionierenden Zivilgesellschaft. Nach Diskussionen ist es bei uns nicht selten so, dass wir noch eine Pizza essen oder ein Bier trinken gehen. Es ist fester Bestandteil unserer politischen Kultur, dass alle wichtigen Kräfte in die Entscheidfindung einbezogen sind und Lösungen erarbeitet werden, die von möglichst vielen mitgetragen werden. Das geht meist etwas länger und ist etwas komplizierter, als wenn einfach einer alleine entscheidet, es sorgt aber für mehr Stabilität und Nachhaltigkeit. In vielen Fällen hat darüber hinaus das Volk das letzte Wort. Dies ist unser Modell der Konsens- und Konkordanzdemokratie und der Volkssouveränität.

Ich oute mich gerne als Fan dieses Modells und finde es bedauerlich, dass es in der Öffentlichkeit und den Medien immer wieder als „langweilig“ dargestellt wird und über Politikverdrossenheit und tiefe Wahlbeteiligungen lamentiert wird. Wenn wir unseren sozialen Frieden, unseren Wohlstand, unsere Sicherheit und unsere Freiheit betrachten, dann ist der „Output“ beachtlich und wir haben wir es mit diesem Modell sehr weit gebracht. Für mich ist es ein Erfolgsmodell und Ausdruck von Schweizer Qualität. Wir müssen uns aber immer bewusst sein: Selbstverständlich ist es nicht. Wir alle müssen dafür etwas tun und Verantwortung übernehmen. In diesem Sinn freue ich mich, wenn Sie am 12. April von Ihrem Wahlrecht Gebrauch machen und für unser Modell einstehen.

Gastkommentar im Wochenspiegel, März 2015


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