«Kann aufgrund der Abstimmungsresultate ein Rückschluss auf die kommenden Wahlen gezogen werden?» Schön wär’s, dachte ich mir, als ein Journalist am vergangenen Sonntag diese Frage stellte. Schön wär’s tatsächlich - wenn es denn so einfach wäre: Aus kantonalzürcherischer linker Sicht war der letzte Abstimmungssonntag ein erfreulicher Tag. Die Abschaffung der Härtefallkommission wurde sehr deutlich abgelehnt, ebenso die beiden Gebühreninitiativen. In beiden Fällen haben die SVP, die FDP und ihre zugewandten Orte nicht annähernd ihr Potential ausgeschöpft. Die Stimmbevölkerung ist nicht einfach Parteiparolen gefolgt, sondern hat unabhängig und differenziert entschieden. Ganz so, wie wir uns dies wünschen. Doch halt: Die Sache hat einen Haken. Zum einen sind Abstimmungen nicht Wahlen und zum anderen hat die gleiche Stimmbevölkerung, die die Abschaffung der Härtefallkommission und die Gebühreninitiativen abgelehnt hat, ebenso deutlich auch die Erbschaftssteuer verworfen. Da ist es uns nicht gelungen, das Potential auszuschöpfen. Ganz so, wie es sich die anderen wünschen. Was uns auf kantonaler Ebene bei den anderen freut, ärgert uns auf nationaler Ebene bei uns.

Und was ist die Moral von der Geschicht’? Die Politik verläuft nicht so planbar und strukturiert, wie das die Parteien und Verbände gerne hätten. Die Stimmbevölkerung agiert weitaus unabhängiger, als wir häufig meinen. Der überwiegende Teil der Bevölkerung beurteilt die politischen Fragen nicht aus Parteiperspektive, sondern aus persönlicher Perspektive. Da gelten andere Kriterien. Das Kriterium, welches in meiner Einschätzung seit Längerem sehr hoch gewichtet wird, ist die Stabilität. Das, was funktioniert, soll nicht geändert werden. Das, was die Leute als positiv wahrnehmen, soll so bleiben. In Zeiten von grossen Flüchtlingsströmen, von drohendem Griechenland-Bankrott und von unsicheren Wirtschaftsaussichten orientieren sich die Leute an der Stabilität – und merken wohl auch, dass es uns insgesamt sehr gut geht (was nicht heisst, dass alles auch gut ist). Dieser Trend führt dazu, dass die Bereitschaft für Veränderungen gering ist und möglichst keine Risiken eingegangen werden. Sinngemäss nach dem Motto: Never change a winning team. Die letzten Abstimmungsresultate entsprechen weitestgehend diesem Trend.

Ist das gut oder schlecht für uns? Ich sehe es als Chance. Stabil ist nicht gleichbedeutend mit konservativ. Stabilität meint auch Einstehen für funktionierende staatliche Institutionen, für ein funktionierendes Sozialsystem, für einen funktionierenden Service public, für eine funktionierende Sozialpartnerschaft, für funktionierende Bürger- und Freiheitsrechte. Wenn es uns gelingt, den vorhandenen Trend für diese – unsere – Anliegen zu nutzen, dann haben wir die Chance wahrgenommen.

Kolumne im P.S., Juni 2015


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