„Eigentlich habe ich mir vorgenommen, in meinem Alter nicht mehr wählen zu gehen. Vom meisten bin ich ja nicht mehr wirklich betroffen und auf eine Stimme mehr oder weniger kommt es sowieso nicht an.“ Dies sagte mir vor einigen Tagen eine 72-jährige Nachbarin im Treppenhaus. Ich habe mit ihr dann diskutiert und sie gefragt, ob es für sie denn nicht wichtig sei, dass ihr Enkel in eine gute Volksschule gehen könne, ihre berufstätige Tochter familienergänzende Kinderbetreuungsangebote nutzen könne und sie selber im Unispital eine hochstehende Behandlung erhalte. Daraufhin meinte sie, sie müsse wohl doch weiterhin wählen gehen, sie sei sich nicht bewusst gewesen, dass kantonale Wahlen auf diese Themen einen Einfluss hätten.

Wir wissen es: Die grösste Wählergruppe sind die Nicht-Wählenden. Meine Nachbarin ist kein Einzelfall. Zahlreiche Personen haben nicht vor, wählen zu gehen. Und ganz viele wissen nicht genau, was die kantonale Politik leistet und für was sie zuständig ist.

Gemäss einer Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung ist Unzufriedenheit mit der Politik und den Politikerinnen und Politikern der Hauptgrund, warum jemand nicht wählen geht. Das ist nicht erstaunlich. Wer von der Politik enttäuscht ist, erwartet von ihr auch nichts (mehr). Interessanter sind jedoch weitere Erkenntnisse: Lediglich ein kleiner Teil der Nicht-Wählenden sind dauerhafte Nicht-Wähler. Die Mehrheit ist temporär abstinent. Ebenso interessant ist die Aussage, dass sich die Mehrheit der Nicht-Wählenden selbst nicht als politikfern sieht. Viele sind durchaus informiert (oder betrachten sich als informiert), sie beteiligen sich einfach nicht. Dies bedeutet als Schlussfolgerung, dass eine Mehrheit der Nicht-Wählenden für Politik durchaus empfänglich ist und eine Chance besteht, dass sie auch wieder wählen geht.

Ein Patentmittel, damit Nicht-Wählende wieder wählen gehen, gibt es nicht. In meiner Erfahrung als Wahlkämpfer ist es jedoch vor allem etwas, was den Ausschlag geben kann: Persönliche Betroffenheit. Die Menschen müssen sich als Betroffene wahrnehmen, die auch Beteiligte sind und Einfluss nehmen können. In einer Gemeinde habe ich kürzlich anlässlich der Einladung zur Gemeindeversammlung gelesen: Wer nicht stimmt, über den wird bestimmt. Das gleiche gilt auch für Wahlen. Jetzt, wenige Wochen vor den kantonalen Wahlen, ist unser Einsatz gefragt: An Diskussionen, an Standaktionen, in Telefonaten, in Leserbriefen, im Freundes- oder Familienkreis müssen wir Betroffenheit schaffen und die Menschen motivieren, wählen zu gehen. Nicht nur, weil es für uns wichtig ist, sondern weil es vor allem für sie wichtig ist. Diese Motivations- und Überzeugungsarbeit ist Knochenarbeit – aber sie lohnt sich. Im Kanton Zürich entscheiden hunderte und tausende Stimmen und nicht hunderttausende oder Millionen von Stimmen über Sieg oder Niederlage – und darüber, welche Politik gemacht wird. Meine Nachbarin hat dies erkannt und geht wählen. Ich hoffe, viele andere tun es ihr gleich.

Kolumne im P.S., März 2015


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