„Okay, so schlimm wie in den Medien dargestellt ist es wohl nicht, aber dass man mal etwas genauer hinschaut, ist ja schon nicht falsch.“ Solche Äusserungen höre ich zurzeit häufig, wenn über das Sozialwesen gesprochen wird. Selbstverständlich: Aktuelle Fragen zu diskutieren und bestehende Systeme zu hinterfragen, ist wichtig. Und auch Kostenbewusstsein zu propagieren, finde ich richtig. Die Schwierigkeit an der laufenden Debatte über das Sozialwesen besteht für mich aber darin, dass vieles miteinander vermischt und in einen Topf geworfen wird: Von den Kleinkinderbetreuungsbeiträgen, den Zusatzleistungen zur AHV und IV, der Sozialhilfe, der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) bis hin zu den neuen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) wird von den Kritikern pauschal alles als „Sozialindustrie“ und „Sozialkosten“ tituliert. Das ist weder sachlich noch hilfreich - und auch nicht korrekt, da es sich um ganz unterschiedliche Rechtsgrundlagen, Kostenträger und Funktionsweisen handelt. Die Realität ist komplexer als es einfache Sprüche glauben machen wollen. Verschiedene Zusammenhänge zeigen dies auf:

  • Die Kleinkinderbetreuungsbeiträge wurden im Zuge des Abbauprogramms San 10 vom Kanton vollständig den Gemeinden zur Finanzierung übergeben. Wenig später hat der Regierungsrat die Beiträge deutlich erhöht – und so dazu beigetragen, dass sich die Gemeinden über die gestiegenen Kosten beklagt haben.
  • Die Kosten für Zusatzleistungen zur AHV und IV sind in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen; ein wesentlicher Grund dafür sind die ebenfalls gestiegenen Heimtarife, die sich etliche alte Personen schlichtweg nicht mehr alleine leisten können.
  • Bei der Sozialhilfe machen sich die Revisionen der Invaliden- und Arbeitslosenversicherung bemerkbar, die zu einer Verlagerung geführt haben. Es zeigt sich hier auch, dass unsere Wirtschaft immer weniger über niedrig-qualifizierte Jobs verfügt und so etliche Personen kaum eine Chance haben, eine Stelle zu finden. Ebenso ist es für Personen über 50 Jahre altersbedingt häufig schwer, den beruflichen Wiedereinstieg zu schaffen.
    Teilweise wird der Eindruck vermittelt, dass Sozialhilfebezüger in Saus und Braus leben würden. Fakt ist aber, dass der Grundbedarf für eine Einzelperson 986 Franken beträgt, der Ansatz für eine Wohnung 1100 Franken und das Vermögen auf maximal 4000 Franken beschränkt ist. Da muss man finanziell schmal durch.
  • Die SKOS ist zum eigentlichen Prügelknaben verkommen und wird für alles verantwortlich gemacht. Verschwiegen wird aber, dass die SKOS lediglich ein nationaler Verein ist, der Empfehlungen für die Sozialhilfe abgibt. Dies unter anderem deshalb, weil der Ständerat und die SVP und FDP keine Rahmengesetzgebung für die Sozialhilfe auf Bundesebene wollen und deshalb die Kantone die Regelungen festlegen müssen. Im Kanton Zürich ist es der Regierungsrat, der die Empfehlungen der SKOS für verbindlich erklärt.

Ich bin nicht bekannt als Sozialromantiker: Als kommunaler Sozialvorsteher im Zürcher Unterland sehe ich, dass es Probleme gibt. Es gibt Personen, die Missbrauch betreiben, die unverschämte Forderungen stellen und die alles andere als kooperativ sind. Ich sehe aber auch: Es handelt sich dabei um eine kleine Minderheit. Die überwiegende Mehrheit verhält sich korrekt. Die allermeisten Personen beziehen Sozialhilfe aufgrund von beruflichen und/oder persönlichen Misserfolgen und Schicksalsschlägen. Wegen einzelner Probleme das ganze Sozialsystem schlecht zu reden, ist unverantwortlich. Genauso gibt es bei Autofahrern Raser, bei Managern Abzocker und bei Handwerkern „schwarze Schafe“. In allen Fällen kann und muss dagegen vorgegangen werden; das gleiche gilt für die Sozialhilfe. Die grosse Leistung unseres Sozialwesens darf deshalb aber nicht vergessen werden: Wir kennen bei uns keine Suppenkü̈chen, keine unter der Brücke schlafenden Menschen und keine verwahrlosten Kinder. Das ist sozial und wirtschaftlich betrachtet eine grosse Errungenschaft und im weltweiten Vergleich keinesfalls eine Selbstverständlichkeit.

Es ist deswegen dringend mehr Sachlichkeit in der laufenden Debatte gefragt. Stimmungsmache hilft nicht weiter; dadurch gibt es keinen einzigen Sozialhilfebezüger weniger, niemand findet einen Job und kein tatsächliches oder vermeintliches Problem wird gelöst. Notwendig sind stattdessen konstruktive Gespräche über die Stärken und Schwächen unseres Sozialwesens mit allen Parteien und das Bemühen um eine gemeinsame Lösungsfindung. Dies könnte im Rahmen der kantonalen Sozialkonferenz geschehen. Die SP und ich sind bereit dazu.

Editorial Unterland Woche, November 2014


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