„Ist das Glas nun halb voll oder halb leer?“ Diese Frage hat mir ein Bekannter nach dem letzten Wahlsonntag gestellt. Für mich ist das Glas ganz klar halb voll: Jacqueline Fehr wurde solide als Neukandidierende in den Regierungsrat gewählt, Mario Fehr als Bisheriger mit einem Glanzresultat bestätigt und im Kantonsrat hat die SP zum ersten Mal seit 12 Jahren wieder zugelegt. Die SP hat damit bewiesen, dass es wieder eine Entwicklung „obsi“ gibt. Das ist Grund zur Freude und in einem unverändert konservativ-liberal geprägten Kanton (um das diffuse Wort „bürgerlich“ nicht zu verwenden) keine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil: Dahinter steckt engagierte Teamarbeit in der ganzen Partei, waren doch die vergangenen Jahre für die Linke kein Zuckerschlecken.

Zuckersüss werden die Zeiten aber auch in Zukunft nicht. Trotz dem guten Abschneiden der SP haben sich die Mehrheitsverhältnisse im Kantonsrat weiter nach rechts verschoben. Vor allem für ökologische Anliegen wird es schwierig. Wenn die Top-Five-Parteien SVP, FDP und CVP zusammenhalten, verfügen sie über 94 von 180 Sitzen. Dazu kommen fünf von sieben Sitzen im Regierungsrat. Für mich ergeben sich daraus zwei Schlussfolgerungen.

Zum einen: Der grosse Einsatz für die kantonalen Wahlen muss für die nationalen Wahlen weitergehen. Die SP kann auch dort zulegen – geschenkt wird uns aber nichts. Die linken Stimmen müssen gebündelt werden, damit im Nationalrat ein Sitzgewinn möglich wird. Für die Ständeratswahl mit zwei frei werdenden Sitzen haben wir mit Daniel Jositsch einen Kandidaten, der echte Wahlchancen hat. Diese Chance müssen wir nützen, indem wir das Potential von der Linken bis zur Mitte voll ausschöpfen. Auch da gilt: Jede Stimme zählt!

Zum anderen: So einig sich die Top-Five-Parteien im Machtstreben sind, so uneinig sind sie sich bei den Themen – sei es bei der Energiewende, der Familienpolitik oder der Volksschule, um nur einige Beispiele zu nennen. Ganz zu schweigen von den polit-kulturellen Differenzen, die latent in der Luft liegen – die Pudding-Partei-Vorwürfe lassen grüssen. Dahinter verbirgt sich nicht etwa Schadenfreude, sondern die Hoffnung, jenseits des starren Blockdenkens themenbezogene Mehrheits-Allianzen bilden zu können. In den 2000-er-Jahren waren es die SP und die FDP, welche die grosse Volksschulreform oder die Einführung der eingetragenen Partnerschaft gemeinsam auf den Weg gebracht haben. Warum soll so etwas nicht mehr möglich sein? Unser Polit-System ist darauf angelegt, dass es keine fixen Mehrheiten gibt, sondern situative und wechselnde Allianzen. Dafür braucht es eigenständige und unabhängige Parteien, die über Gestaltungskraft, Ideen und Werte verfügen, die aber auch den Willen zur Zusammenarbeit und zur Übernahme von Verantwortung haben. Die SP ist und bleibt eine solche Partei. Wenn es uns gelingt, selber weiter an Stärke zuzulegen und gleichzeitig themenbezogen offen zu sein für Allianzen, dann kann das Glas sogar auch mal mehr als nur halb voll werden.

Kolumne im P.S., April 2015


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